Zwei Kinder in einer Hängematte in der Seestadt Aspern in Wien
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Wien als Vorreiterin

„Stadtplanung ist nie geschlechtsneutral“

Vom Wohnbau über die Parkgestaltung bis hin zu Straßennamen – die Städte der Welt richteten sich lange Zeit nach den Bedürfnissen von Männern. Wien macht es seit den 90ern anders und gilt seither als Vorreiterin in puncto geschlechtergerechte Stadtplanung. Im Gespräch mit ORF.at erklären Expertinnen, was eine Stadt braucht, um für alle da zu sein – und inwieweit das auch mit der Klima- und der Coronavirus-Krise zusammenhängt.

Ob Barbara-Prammer-Allee, Simone-de-Beauvoir-Platz oder Hannah-Arendt-Park: In der Seestadt Aspern, einem der größten Stadtentwicklungsgebiete Europas, tragen alle Straßen, Plätze und Parks Namen bekannter Frauen. Und das nicht ohne Grund: „Das ist ein Signal, um zu zeigen, dass es viele Frauen gibt, die Großartiges geleistet haben“, sagt Ute Schaller von der städtischen Projektleitung Seestadt gegenüber ORF.at.

Denn nach wie vor sind ein Großteil der Verkehrsflächen in Wien nach Männern benannt: Von über 6.700 erinnern über 4.000 an Männer, knapp 500 an Frauen. Der Rest ist nicht personenbezogen. Bei der geschlechtergerechten Stadtplanung – auch „Gender-Planning“ genannt – geht es aber um mehr als nur Symbolik.

Simone-de-Beauvoir-Platz in der Seestadt Aspern in Wien
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Die französische Feministin Simone de Beauvoir ist eine von vielen bekannten Frauen, denen die Seestadt Aspern Straßen, Plätze und Parks gewidmet hat

Stadtplanung lange von Männern dominiert

Eine Stadt, die für alle Geschlechter und besonders auch für Frauen passen soll, betrifft die Gestaltung von Parks genauso wie die Breite von Gehsteigen, die Beleuchtung von Straßen und den Wohnbau. „Stadtplanung ist nie geschlechtsneutral“, stellt die Wiener Stadtplanerin Eva Kail fest. Die eigenen Alltagserfahrungen würden sich – meist unbewusst – auch in der Art und Weise der Planung niederschlagen.

Dass der Kanon der Stadtplanung lange Zeit sehr männlich dominiert war, zeigt sich auch am Stadtbild. Ersichtlich ist das etwa daran, ob Treppen mit Rampen für Kinderwagen ausgestattet sind, oder auch, ob Tiefgaragen finster und verwinkelt angelegt sind. Denn Kinder werden immer noch häufiger von Frauen betreut als von Männern. Und auch das Thema Sicherheit im öffentlichen Raum betrifft Frauen besonders, da sie häufiger Opfer von sexueller Gewalt werden.

Geschlechterunterschiede bei Mobilität

Es gehe bei „Gender-Planning“ nicht darum, „das Rad neu zu erfinden, sondern darum, es im Sinne einer fair geteilten Stadt neu zu wuchten“, sagt die Expertin, die als Pionierin in Sachen geschlechtergerechte Stadtplanung gilt. Doch wie sieht das in der Praxis aus? Das fängt Kail zufolge etwa bereits bei den Geschlechterunterschieden in puncto Mobilität an.

Frauen gehen mehr zu Fuß, Männer fahren mehr Auto – das zeigte auch eine Umfrage des VCÖ aus dem Jahr 2017. Demnach fuhren Männer doppelt so viele Kilometer mit dem Auto wie Frauen. Frauen legten hingegen um 40 Prozent mehr Kilometer zu Fuß zurück. Und: Gerade während der Pandemie gaben Frauen im Zuge einer weiteren VCÖ-Befragung jüngst an, noch mehr zu Fuß zu gehen. Fakt ist: Werden Interessen der Zufußgehenden berücksichtigt, dann profitieren davon Frauen im besonderen Maße.

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Schriftzug „Frauen bauen Stadt“ vor Neubauten in der Seestadt in Wien
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Vom Wohnbau über die Gestaltung des öffentlichen Raums bis hin zu den Stadtplanerinnen selbst: Das Stadtentwicklungsgebiet Seestadt Aspern trägt eine weibliche Handschrift
Spielplatz in der Seestadt in Wien
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Familienfreundliche Gestaltung – etwa gut einsichtige, geräumige Spielplätze – ist Teil des Konzepts
Sitzgelegenheiten in der Seestadt Aspern in Wien
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Viele Sitzmöglichkeiten sollen zum Verweilen einladen
Mutter mit Kinderwagen in der Seestadt Aspern in Wien
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Gehwege sollen breit sein, sodass Familien mit Kinderwagen ebenso wie ältere Personen mit Gehhilfen gut gehen können. Auch auf eine gute Beleuchtung wird Wert gelegt – Stichwort Angstvermeidung.
Skyline der Seestadt Aspern in Wien
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Bis 2028 soll die Seestadt Aspern, die 20.000 Menschen beheimaten und ebenso viele Arbeitsplätze schaffen soll, fertiggestellt werden

Stadt der kurzen Wege

Um dem nun gerecht zu werden, sollen Gehwege für mehr Komfort und höhere Verkehrssicherheit möglichst breit sein. Auch sollen die Wege von A nach B möglichst kurz ausfallen, um Zeit zu sparen. Das heißt, dass Supermarkt, Arztpraxen, Parks oder Bildungseinrichtungen nah am eigenen Wohnort liegen sollten. Laut Kail kommt auch das insbesondere Frauen zugute, weil diese in der Regel am Tag mehr Wege zurücklegen als Männer.

Der Grund für die vielen Wege? Nach wie vor ist es so, dass bezahlte und vor allem auch unbezahlte Versorgungs- und Pflegearbeit überwiegend von Frauen geschultert wird. Die Coronavirus-Krise machte das noch einmal deutlicher: Einer jüngsten WIFO-Analyse zufolge trifft die Doppelbelastung von Beruf und Betreuungspflichten, vor allem auch im Homeoffice, Frauen stärker als Männer. „Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern kann zwar durch Planung nicht unmittelbar beeinflusst werden, aber es ist wichtig, dass die Stadtplanung diese Care-Arbeit mitdenkt“, sagt Kail.

Wie Wien die Mädchen in die Parks lockte

Geschlechterunterschiede gebe es auch in der Nutzung und damit den Gestaltungsanforderungen von Parks, so Kail. Nachdem Untersuchungen in den 90ern gezeigt hatten, dass sich Mädchen zwischen dem zehnten und 13. Lebensjahr oft aus den Parks zurückziehen, auch weil sie dort keine ansprechenden Angebote vorfanden, wurden ab 1999 erste Umgestaltungen im Bruno-Kreisky-Park und im Einsiedlerpark erprobt.

Ballspielkäfige, bisher überwiegend von Buben genutzt, wurden dort offener gestaltet. Basierend auf Befragungen von Mädchen wurden Volleyball- und Badminton-Plätze ergänzt. Hängematten und viele unterschiedliche Sitzmöglichkeiten, die zum Plaudern und Verweilen einladen sollten, hätten sich bei allen Bevölkerungsgruppen bewährt, wie Kail ergänzt. Für ein besseres Sicherheitsgefühl wurden hohe Büsche zurückgeschnitten, teils entfernt und Wege besser beleuchtet.

Liegeflächen im Bruno-Kreisky-Park in Wien
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Keine hohen Büsche, gut beleuchtete Wege und Sitzmöglichkeiten: Gendergerechte Parkgestaltung des Bruno-Kreisky-Parks

Nach ähnlichen Prinzipien ging man bei zahlreichen Folgeprojekten vor. So auch im neuen Stadtteil Seestadt Aspern, der bis 2028 fertiggestellt und 20.000 Menschen beheimaten und fast genauso viele neue Arbeitsplätze schaffen soll. „Die Seestadt ist weiblich“, wird auch in einer Broschüre geworben.

Zwischen Kanarienvögeln und rosa U-Bahnen

In den Anfangsjahren des „Gender-Plannings“ in Wien schien so eine Werbung allerdings undenkbar, erinnert sich Kail. Heftig seien die Reaktionen etwa im Vorfeld der von Kail initiierten Ausstellung „Wem gehört der öffentliche Raum – Frauenalltag in der Stadt“ 1991 gewesen. Ein Kollege meinte damals: „Wenn diese Ausstellung kommt, fordere ich die Ausstellung der Hund oder der Kanarienvogel in der Großstadt.“

Gender-Mainstreaming

Der Begriff „Gender-Mainstreaming“ wurde erstmals 1985 auf der UNO-Weltfrauenkonferenz in Nairobi diskutiert. 1995 fand er sich in der UNO-Strategie für eine geschlechtergerechte Gesellschaft wieder.

Auch als Beatrix Rauscher – jetzt für die Projektleitung der Bahnareale wie das Stadtentwicklungsgebiet Nordbahnhof zuständig – ein Gender-Mainstreaming-Pilotprojekt bei der U-Bahn-Planung aufsetzen sollte, sorgte das zunächst für Aufsehen. Ein Kollege erkundigte sich, ob die U-Bahnen fortan rosa gestrichen würden. In der Abteilung habe es aber rasch einige „Aha-Momente“ gegeben.

Frauen mit „holistischerem Blick“?

Etwa als die Planenden berechneten, wie lange man mit Kinderwagen oder als mobilitätseingeschränkte Person mit dem Lift von der Oberfläche bis zum Bahnsteig braucht. Bei einem sogenannten gebrochenen Lift, bei dem ein Umstieg von einem Lift in einen anderen auf einer Zwischenebene notwendig ist, verliert man Rauscher zufolge rasch einige Minuten. Und: Statt eines rosa Anstrichs haben die Wiener „Öffis“ Piktogramme, die gleichermaßen Mütter, aber auch Väter mit Kind am Schoß zeigen, bekommen. Auch das schaffe unbemerkt Bewusstsein, merkt Kail an.

Piktogramm zum Überlassen eines Sitzplatzes in den Wiener Linien
Wiener Linien
Piktogramme in den Wiener „Öffis“, die Frauen und Männer mit Kind zeigen, sollen ein Signal sein

„Natürlich sehen wir das einmal aus der Frauenperspektive heraus, aber die Qualitätsverbesserungen, die entstehen, kommen allen Menschen zugute“, sagt Rauscher. Generell sind sich die drei Planerinnen einig, dass eine „holistischere Stadtplanung“ nach wie vor eher von Frauenseite forciert wird, es gebe aber auch gerade unter jüngeren männlichen Kollegen eine solche Herangehensweise.

Frauen-Werk-Stadt als Modellprojekt

Aller anfänglichen Skepsis zum Trotz sollte sich „Gender-Planning“ in den folgenden Jahren bewähren. 1992 wurde das Frauenbüro der Stadt Wien gegründet – mit Kail als Leiterin. Eines der ersten Projekte war die Frauen-Werk-Stadt I, die 1997 fertiggestellt wurde und mit 360 Wohnungen laut Kail europaweit noch immer die größte von Architektinnen geplante Wohnbauanlage darstellt.

Dort gibt es Kinderwagenabstellplätze in jedem Stockwerk sowie ein geräumiges Stiegenhaus, das den Kontakt mit Nachbarn ermöglichen soll. Der Waschraum befindet sich nicht wie lange Zeit üblich im finsteren Keller, sondern auf dem Dach. Und in den Wohnungen befinden sich Leichtbauwände, die problemlos entfernt werden können.

Wert wurde zudem auf die umliegende Infrastruktur gelegt: Ein Kindergarten, eine Apotheke und eine Praxis für Allgemeinmedizin befinden sich im Haus, ein Supermarkt liegt gleich nebenan, ebenso eine Straßenbahnstation. „Wir leben hier wie in einem Dorf“, meinte eine Bewohnerin bei der 20-Jahre-Feier laut Kail.

Kindergarten im Wohnbau Frauenwerkstadt in Wien
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357 Wohnungen, ein Kindergarten, eine Apotheke und eine Arztpraxis finden sich in der Frauen-Werk-Stadt im 21. Bezirk

Pilotbezirk Mariahilf

Auch auf Bezirksebene trieben die Stadtplanerin und ihre Kolleginnen die geschlechtergerechte Planung voran. 2002 wurde Mariahilf Pilotbezirk und im Zuge dessen viele Maßnahmen zur Verbesserung des Zufußgehens gesetzt. Aufgrund der großen Höhenunterschiede im Bezirk wurden Rampen ergänzt und ein Lift errichtet. Wie bereits bei den ersten Parkumgestaltungen 1999 wurden die Straßen des Bezirks besser beleuchtet, um Angsträume zu vermeiden. Auch eine eigene Leitstelle Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen folgte.

Seit 2005 ist „Gender-Budgeting“ Bestandteil des Budgetprozesses der Stadt Wien. „Zentrales Anliegen dabei ist, die Haushaltsmittel unter sozialen Gesichtspunkten gerecht zwischen den Geschlechtern aufzuteilen“, heißt es auf der Homepage der Stadt. 2013 veröffentlichte die Magistratsabteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung überdies ein umfassendes Handbuch, das als Anleitung für Stadtplanungsprojekte dient. Und: Planungs- und Verkehrsressort, das Wohnbauressort und die Stadtbaudirektion der Stadt werden derzeit von Frauen geleitet.

Kail sieht „Synergie mit Klimakrise“

Wenngleich sich seit den Anfangsjahren viel getan habe, müsse man sich tagtäglich für die Anliegen einsetzen, so Kail, Schaller und Rauscher unisono. „Um Gruppen, die ruhiger und leiser sind, eine Stimme zu geben und den Raum, den sie brauchen, auch zu verteidigen, braucht es immer wieder auch Ellenbogen“, fügt Schaller hinzu.

In puncto Ressourcen und Aufmerksamkeit konkurrieren die Verfechterinnen und Verfechter von „Gender-Planning“ in den kommenden Jahren freilich auch mit einer Fülle anderer Interessen. Doch gerade was die Klimakrise – eines der Hauptthemen der letzten Jahre – betrifft, sieht Kail keinen Widerspruch. Ganz im Gegenteil: „Wenn man vor 40 Jahren auf Gender-Planning-Aspekte in der Stadtplanung gehört hätte, hätte man schon viel früher in Grünflächen investiert – und in nachhaltige Verkehrsmittel.“

„Ich glaube, dass es da große Synergien gibt“, so die Expertin. Angesichts der Klimakrise sei nun ein ähnlich umfassender Stadtumbau wie zu Zeiten der Industrialisierung im 19. Jahrhundert notwendig, sagt sie auch. Es sei nun wichtig – anders als damals –, viele Expertinnen, „die sowohl die ökologische als auch die soziale Nachhaltigkeit im Blick haben, einzubinden“.